Fotos posten, Nachrichten tweeten: Im Web 2.0 kann jeder ein Journalist sein. Was bedeutet das für die Medienlandschaft und die öffentliche Meinungsbildung?
Mediennutzer sind heutzutage weit mehr als Rezipienten. Sie kommentieren, bewerten, liefern Inhalte: Die klassische Aufteilung zwischen denen, die Geschichten veröffentlichen, und denen, die das Veröffentlichte konsumieren, funktioniert nicht mehr. In der heutigen Partizipationskultur gestalten Medienmacher und Mediennutzer das öffentliche Meinungsbild gemeinsam.
Immer mehr Medien öffnen sich dem Mitteilungsdrang ihres Publikums, zum Beispiel, indem sie User-Generated-Content, also von den Nutzern zugelieferte Inhalte, weiterverbreiten. Sie versuchen, von den Lesern produzierte Videos, Blogeinträge oder Kommentare in ihr Medium zu integrieren.
Ein prominentes Beispiel ist die Leserreporter- Kampagne der Bild, Deutschlands erfolgreichstem Boulevardblatt. Bild fordert seine Leser in Online und Print dazu auf, möglichst spektakuläre Fotos an die Redaktion zu senden. Für besonders beliebte Schnappschüsse werden Preise und Prämien vergeben, sie werden auf die Website gestellt oder in der Zeitung abgedruckt. Trotz kritischer Stimmen, die von einer „ Paparazzisierung der Gesellschaft“ sprechen, ist die Kampagne populär und deutschlandweit bekannt.
Deutsche Blogger sagen „Nein, danke!“
Ein Beispiel für einen mäßig erfolgreichen Versuch, nutzergenerierte Inhalte zum Vorteil für das eigene Medium zu nutzen, ist der Start der Huffington Post Deutschland im Oktober 2013. Die Huffington Post ist eine Online-Zeitung, die einige von der eigenen Redaktion verfasste Artikel und Beiträge veröffentlicht, zum Großteil jedoch von kostenfreien Gastbeiträgen lebt. Dieses Prinzip funktioniert in den USA seit Jahren sehr erfolgreich.
Als die Huffington Post jedoch vor ihrem Start deutsche namhafte Blogger um kostenlose Mitarbeit und Artikelzulieferung gebeten hatte, stieß das hierzulande auf wenig Gegenliebe. Einer der Angefragten, Kai Petermann, veröffentlichte sein Antwortschreiben: „Ich gebe Ihren Vorschlag gern an meinen Vermieter, den Lebensmittelhändler, den Tankwart und die Telekom weiter. Vielleicht kann ich in Zukunft dort ja ebenfalls ohne Bezahlung alle möglichen Dinge bekommen.“ Kaum ein prominenter Blogger sagte der Huffington Post Deutschland seine Mitarbeit zu.
Insgesamt hält sich auch die Lust der deutschen Bürger, im Internet eigene Videos hochzuladen oder ein eigenes Blog zu führen, noch relativ in Grenzen. „Dagegen nutzen recht viele Deutsche soziale Netzwerke, allen voran Facebook“, sagt Leif Kramp, Medien- und Kommunikationswissenschaftler an der Universität Bremen. „Dort setzt hierzulande auch der Partizipationsjournalismus an: Soziale Netzwerke gehören mittlerweile zum festen Bestandteil der journalistischen Recherche und des Dialogs zwischen Journalisten und Nutzern.“ In TV- und Radiosendungen werden immer häufiger Tweets und Facebook-Einträge vom Publikum zitiert. Aber es gibt hierzulande wenig innovative Vorreiter bei der Einbindung von Nutzern in die Berichterstattung.
„Call-a-Journalist“
Eine neuartige Form der Zusammenarbeit zwischen Nutzer und Medienmacher machte von sich reden. „Call-a-Journalist“ – ein Projekt, das zwar nicht direkt von nutzergenerierten Inhalten lebt, jedoch erst durch die Partizipationskultur möglich geworden ist.
Das Hamburger Lokalmagazin „Mittendrin“ setzte Anfang des Jahres 2014 auf die Vor-Ort-Kompetenz seiner Leserschaft: Bei der Aktion „Call-a-Journalist“ konnten die Leser des Online-Magazins per Klick auf einen roten Button jederzeit einen Redakteur des Lokalmagazins zu sich rufen – immer dann, wenn vor den Augen des Nutzers etwas passierte, worüber seiner Meinung nach berichtet werden sollte.
Diese besondere Aktion wurde zu einem ebenso besonderen Anlass gestartet: In Deutschlands zweitgrößter Stadt Hamburg hatte es seit Ende Dezember 2013 vermehrt Krawalle, Unruhen und Auseinandersetzungen von Protestlern mit der Polizei gegeben. Der städtische Senat erklärte daraufhin Teile Hamburgs zur Gefahrenzone und erlaubte somit der Polizei, uneingeschränkt und ohne weiteren Grund Personenkontrollen bei sämtlichen Passanten durchzuführen. Dies führte zu weiteren Protesten, die Situation schien sich zu verschärfen und wurde unübersichtlicher.
Die Idee hinter der Aktion „Call-a-Journalist“: von der Nutzereinbindung durch den „Notruf“-Button zu profitieren und trotzdem professionelle Berichterstattung durch einen geübten Journalisten zu ermöglichen. Die Macher von Mittendrin verbuchen „Call-a-Journalist“ als Erfolg. Zwar sei der Button am Aktionswochenende nur fünfmal gedrückt worden – jedes Mal habe es sich aber gelohnt, sofort zum Standort des Nutzers zu eilen und zu berichten.
Demokratisch oder unprofessionell?
Was bedeuten diese Entwicklungen für den Journalismus? Verlieren professionelle journalistische Inhalte an Bedeutung? „Partizipation kann dann zu einer De-Professionalisierung der Medien führen, wenn nutzergenerierte Inhalte als Informationsersatz für professionelle journalistische Inhalte genutzt werden – was unter Jugendlichen bereits zu beobachten ist“, sagt Leif Kramp.
Aber gleichzeitig wird die Gestaltung von Öffentlichkeit demokratischer: „Jeder kann sich daran beteiligen, jeder wird potenziell gehört und kann selbst zum ‚ Massenmedium‘ aufsteigen“, so Kramp. „Es ist auch die Aufgabe von Journalisten, diese Vielstimmigkeit aufzunehmen, wenn sie Themen aufgreifen und Öffentlichkeit herstellen.“