Wie andere europäische Nationen hatte auch Deutschland einst Kolonien. Teile von Afrika, China und Ozeanien waren deutscher Herrschaft unterstellt. In vielen deutschen Städten gibt es noch Spuren aus dieser Zeit, zum Beispiel in Straßennamen oder Museen, die viele Ausstellungsstücke aus den ehemaligen Kolonien besitzen. In diesem Beitrag stellen wir Personen und Projekte vor, die sich der Aufarbeitung der Kolonialzeit verschrieben haben.
Mittlerweile blicken immer mehr Menschen in Deutschland zunehmend kritisch auf die koloniale Vergangenheit. Ein Aspekt davon ist: Die Menschen akzeptieren nicht mehr, dass Straßen und Plätze nach Kolonialisten benannt sind und fordern eine Umbenennung. In manchen Fällen ist das schon geschehen. Zum Beispiel in Berlin. Ein sehr bekanntes Beispiel war die Wissmannstraße in Berlin-Neukölln, benannt nach Hermann von Wissmann, Befehlshaber der Kolonialtruppen in Ostafrika, im heutigen Tansania. Er war an der gewaltsamen Kolonialisierung der Region beteiligt. Über 15 Jahre haben Menschen für die Umbenennung gekämpft. Seit 2021 heißt die Straße nun Lucy-Lameck-Straße, zu Ehren der ersten Frau im Parlament von Tansania.
Kampagnen wie diese gibt es auch in anderen deutschen Städten. Manche erfolgreich, andere nicht. Zum Beispiel in Erfurt, der Hauptstadt von Thüringen. Dort ist das Nettelbeckufer nach dem Seemann Joachim Nettelbeck benannt, der im 18. Jahrhundert als Obersteuermann auf Schiffen in die niederländischen Kolonien anheuerte und auch am Sklavenhandel beteiligt war. Der Verein Decolonize Erfurt fordert seit einigen Jahren, dass die Straße umbenannt wird. „Wir wollen nicht mehr hinnehmen, dass im Straßenbild ein Kolonial-Lobbyist und Steuermann auf Sklavenschiffen unkommentiert geehrt wird“, sagt Jan, 28 Jahre alt, von Decolonize Erfurt. Vor kurzem ist das Vorhaben im Erfurter Stadtrat gescheitert. Eine Mehrheit war dagegen. „In der Stadtpolitik ist es leider nicht Konsens, das koloniale Erbe aufzuarbeiten und Kolonialverbrecher und Profiteure der Sklaverei zu entehren“, sagt Jan und fügt hinzu, dass sie sich trotzdem weiter dafür einsetzen werden, dass die Straße einen anderen Namen bekommt. Sie möchten generell das koloniale Erbe in Erfurt sichtbar machen, es thematisieren und so zur Dekolonisierung der Stadt beitragen. Neben der Kampagne zur Umbenennung bietet der Verein auch so genannte dekoloniale Stadtrundgänge an, entlang von Orten, die direkt oder indirekt mit Kolonialismus zu tun haben.
Was genau ist ein dekolonialer Spaziergang?
Das Nettelbeckufer wird vorerst nicht umbenannt. Das ist schon eine Niederlage für euch. Aber ihr seht die Kampagne trotzdem auch als Erfolg. Warum?
Was hat euch besonders gefreut?
Koloniale Raubkunst in deutschen Museen
In Deutschland beginnen nun auch Museen aufzuarbeiten, wie die vielen Stücke aus der Kolonialzeit in ihren Besitz gekommen sind. „Erstaunlich ist die schiere Masse an Entitäten, die innerhalb von nur 30 Jahren in die Museen, zum Beispiel die sogenannten ethnologischen Museen, gebracht wurde“, sagt die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy. Die Französin lehrt an der Technischen Universität Berlin und ist eine wichtige Stimme in der Debatte um koloniale Raubkunst in den Museen Europas. „Wir sehen dort immer die Objekte in ihren gut beleuchteten Vitrinen“, sagt sie. „Bis jetzt haben die Museen uns ungern oder gar nicht erzählt, dass diese schönen Objekte oft aus angespannten bis kriegerischen oder kriminellen Zusammenhängen zu ihnen gekommen sind.“
Dass sich die deutschen Museen und auch die Städte nun offen zu ihrer kolonialen Vergangenheit positionieren, hat mit neueren Bewegungen wie Black Lives Matter und den vielen jungen Menschen zu tun, die einen anderen Umgang mit der kolonialen Vergangenheit fordern. Die Forderungen nach Rückgabe der kolonialen Raubkunst seien dagegen nicht neu, sagt Bénédicte Savoy. „In den 1960er und 1970er Jahren, als etwa 20 afrikanische Länder ihre Unabhängigkeit erlangt haben, war die Restitution ein sehr wichtiges Thema. Afrikanische Intellektuelle haben es zwanzig Jahre lang versucht, doch es hat nicht geklappt.“ Das ändert sich nun langsam. Einige Stücke haben deutsche Museen schon zurückgegeben, zum Beispiel an Namibia oder Nigeria. „Es sollte alles zurückgegeben werden, was verlangt wird“, sagt Bénédicte Savoy und versichert, dass europäische Museen dann nicht leer sein würden. Schließlich hätten diese hunderttausende Inventarnummern aus den ehemaligen Kolonien. „So viel will kein afrikanisches Land haben“, sagt sie. „Die Forderungen betreffen einige wenige Objekte, die für die eigene Kultur, Religion oder Identität wichtig sind.“
Wie viele Ausstellungsstücke aus den ehemaligen Kolonien befinden sich in deutschen Museen?
Was bedeutet es für Gesellschaften, wenn das eigene kulturelle Erbe nicht anwesend ist?
In manchen Museen wie im Humboldtforum in Berlin ist neben den Ausstellungsstücken jetzt zu lesen, unter welchen brutalen Umständen sie in deren Besitz gekommen sind. Einige Museen stehen auch schon dazu, dass sie vom Kolonialismus profitiert haben. Wie wird es weitergehen?
Schädel, Knochen und Skelette
Um mehr Licht in das dunkle Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte zu bringen, hat der DAAD im letzten Jahr das Stipendium „German Colonial Rule“ ausgeschrieben. Acht junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Ländern Afrikas und der Asia-Pazifik-Region sollen damit das politische Handeln im Deutschen Kaiserreich sowie die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Auswirkungen auf die betroffenen Länder erforschen. Eine von ihnen ist Julie Likondem aus Kamerun. Sie ist 29 Jahre alt und erforscht für ihre Dissertation menschliche Überreste aus Kamerun in Deutschland. Menschliche Überreste, so nennt man die Schädel und Gebeine aber auch Haare und Häute von Verstorbenen und Getöteten, die zur Kolonialzeit kistenweise nach Deutschland verschifft wurden. Sie lagern immer noch in deutschen Museen, Universitäten und Kliniken. Julie Linkondem durchforstet momentan deren Bestände. „500 Überreste von Menschen aus Kamerun habe ich schon gefunden“, sagt Linkondem, die noch am Anfang ihrer Forschung ist.
Wie sind Sie auf das DAAD-Stipendium aufmerksam geworden?
Was sagen die Menschen in Kamerun dazu, dass sich Gebeine ihrer Vorfahren in Deutschland befinden?
Sie suchen auch in Kamerun nach Menschen, die immer noch Familienmitglieder vermissen. Gibt es dort Archive für vermisste Personen?
Später wird sie auch untersuchen, unter welchen Umständen die Gebeine in die Museen gelangt sind. Dass die Einheimischen sie, wie oft behauptet, verkauft haben, hält sie für unwahrscheinlich. „Schließlich verehren viele Menschen in Kamerun ihre Ahnen“, sagt sie. „Die menschlichen Überreste sind dort heilig.“ Oft sei es aber schwierig, die Gebeine einem Land und einer Region zuzuordnen. „Es wird lange dauern, die Herkunft herauszufinden“, sagt sie. „Bei manchen wird es gar nicht mehr möglich sein.“ Demnächst fliegt sie für einen Forschungsaufenthalt nach Kamerun. Dort wird sie Familien suchen, die noch Verstorbene vermissen. Und vielleicht könnten so einige davon bald ihre Ahnen zurückbekommen – nach über einhundert Jahren.
Katja Hanke arbeitet als freie Journalistin in Berlin.
Links zum ThemaWebseite von Decolonize Erfurt
Radio-Interview mit Bénédicte Savoy über die Rückgabe von afrikanischer Kunst
DAAD-Stipendium „German Colonial Rule“
Zeitgeister – Das Kulturmagazin des Goethe-Instituts: Beiträge aus dem Themenbereich: Postkolonialismus
„Bismarck neu denken“ – offener Ideenwettbewerb zur Kontextualisierung des Bismarck-Denkmals im Alten Elbpark in Hamburg
Bundeszentrale für politische Bildung, Geschichte des europäischen und deutschen Kolonialismus
Schule ohne Rassismus, Themenheft Kolonialismus
Exile Kulturkoordination Essen, Unterrichtsmodule Kolonialismus/Postkolonialismus