Viele Kinder und Jugendliche leiden unter Attacken im Internet. Eltern sind alarmiert, Lehrer und Wissenschaftler suchen nach Wegen der Prävention.
Wenn Kinder in Deutschland die Telefonnummer 116 111 wählen, haben sie meist große Sorgen. Bei der „Nummer gegen Kummer“ bekommen sie anonymen
Beistand. Durchschnittlich ein bis zwei Mal am Tag geht es dabei konkret um
Cybermobbing: 495 Fälle verzeichnete die zentrale telefonische Beratungsstelle für Deutschland im Jahr 2013.
Die Geschichten, die die Helfer zu hören bekommen, ähneln sich. Nicht selten beginnt das Mobbing
offline,
schwappt dann ins Internet und
eskaliert dort. „Am Telefon melden sich auch
Mitläufer und Täter“, sagt Nina Pirk, Mitarbeiterin bei der Nummer gegen Kummer. „Viele wollen
sich nur kurz
rächen, stellen dabei aus Wut oder aus Versehen etwas ins Netz. Erst im Nachhinein werden ihnen die Konsequenzen klar.“
Cyberbullying, in Deutschland eher unter dem Begriff Cybermobbing bekannt, ist ein eher
junges Phänomen. Seit Smartphones und Laptops
die Kinderzimmer erobert haben, ist Kommunikation mit Gleichaltrigen immer und überall möglich. Das hat nicht nur Vorteile. Streitereien, Machtkämpfe und
Hänseleien, wie sie auf jedem Schulhof vorkommen, können nun jederzeit ins Netz
verlagert werden. Dort nehmen sie mitunter dramatische Ausmaße an – auch weil das Publikum größer ist und die technischen Möglichkeiten vielfältiger sind. Cybermobbing kennt viele Variationen: Belästigungen, Beschimpfungen, das Verbreiten von
Gerüchten, das
Hacken von Nutzerprofilen, die Androhung von Gewalt.
Peinliche Fotos für alle sichtbar
Die Möglichkeiten, sich zu wehren, sind dagegen begrenzt. Laut der Studie „Jugend, Information, Multimedia 2013“ vom Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest, einer Einrichtung der
Landesmedienanstalten in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg, die die Mediennutzung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 12 und 19 Jahren untersucht hat, haben zwölf Prozent aller Befragten bereits die Erfahrung gemacht, dass Unwahrheiten über sie im Netz verbreitet wurden. Rund 20 Prozent geben an, dass gegen ihren Willen peinliche Fotos von ihnen veröffentlicht wurden. Und fast ein Drittel bestätigte, dass in ihrem Bekanntenkreis schon einmal jemand per Handy oder Internet „
fertiggemacht“ wurde.
Medien berichten regelmäßig über im Internet
bloßgestellte oder
verhöhnte Teenager. Die Angst, es könnte das eigene Kind treffen, ist weit verbreitet. Der Verein „Bündnis gegen Cybermobbing“ hat dazu 2013 eine Untersuchung durchgeführt. Ergebnis: Nur wenige Eltern fühlen sich ausreichend informiert und unterstützt. Vor allem seitens der Schulen wünschen sie sich mehr
Aufklärung.
Dabei ist in den vergangenen Jahren viel passiert. Dutzende
Pilotprojekte wurden ins Leben gerufen, an Schulen haben Workshops und Projekttage stattgefunden. In Nordrhein-Westfalen hat die Krankenkasse Bundesknappschaft zusammen mit dem
Deutschen Kinderschutzbund das Projekt „Firewall Live“ gegründet, das Medienkurse für Kinder und Eltern anbietet. In Berlin haben Forscher der Freien Universität das Schulungsprogramm „Medienhelden“ entwickelt. Doch die Nachfrage ist überall größer als das Angebot. Und viele Projekte werden nur über kurze Zeit finanziert.
Viele Ansätze, keine zentralen Strukturen
Zentrale Strukturen zur Prävention gibt es im
föderal organisierten Deutschland nicht, auch keine
verbindlichen Standards bei der Qualitätssicherung, zum Beispiel durch wissenschaftliche
Evaluierung. Die Diplompsychologin Anja Schultze-Krumbholz, die am Berliner Projekt „Medienhelden“ beteiligt war und seit langem zu dem Thema forscht, findet das problematisch.
„Jeder
Schulsozialarbeiter an jeder Schule entwickelt irgendwas zum Thema Cybermobbing, aber niemand weiß genau, wie wirksam das ist.“ Im schlimmsten Fall zeige man den Schülern dabei ungewollt, „wie man noch
effektiver mobbt“. Zurzeit berät Schultze-Krumbholz zusammen mit anderen Wissenschaftlern das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend beim Aufbau einer deutschlandweiten
Anlaufstelle für Internetrisiken.
Neben den Tipps und Informationen, die bereits im Internet verfügbar sind, gibt es einen weiteren
Baustein in der Präventionsarbeit. Die Jugendlichen selbst werden dabei zu Helfern ausgebildet. Denn oft ist die
Hemmschwelle bei den Opfern groß, sich an Erwachsene zu wenden. „Sie fürchten, dass dann alles noch öffentlicher wird, dass sie vielleicht sogar vor die Klasse treten und sich erklären müssen“, sagt Nina Pirk. Oder dass die
panischen Eltern sofort Kontakt zu den Eltern der Täter suchen. Auch das ist den Opfern extrem unangenehm. „Sie nehmen es als einen weiteren Kontrollverlust wahr, wenn Eltern oder Lehrer gegen ihren Willen handeln.“
Schüler aus höheren Klassen sind deshalb manchmal eine bessere Anlaufstelle. In Hessen schult ein Team aus Medienpädagogen und
Soziologen Jugendliche zu „Digitalen Helden“, die an ihren Schulen als
Mentoren tätig werden. In anderen Bundesländern finanzieren die Landesmedienanstalten sogenannte Medienscout-Programme: Die älteren Schüler, die eine Weiterbildung durchlaufen haben, sollen die jüngeren
sensibilisieren. Erst nachdenken, dann
posten – das ist dabei ihre wichtigste Botschaft.