Sie stellen gängige Bildungskonzepte auf den Kopf: Laborschulen, Freie Alternativschulen und andere innovative Ansätze gewähren Schülerinnen und Schülern in Deutschland mehr Freiraum. Die Potenziale scheinen auch für die Integration von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund groß.
Eine Schule ohne Pausenglocke – wer jemals sehnsüchtig auf das Signal zum Ende des Unterrichts gewartet hat, wird diese Vorstellung irritierend finden. Die Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler der Laborschule in Bielefeld kommen seit Jahrzehnten sehr gut ohne den Gong aus, sie haben selbst im Blick, wann sie eine Pause brauchen.
In den 1970er-Jahren richtete die Universität Bielefeld zwei
Versuchsschulen ein, die gängige Lehrkonzepte
auf den Kopf stellen sollten: Die Laborschule (LS), die Schulanfängerinnen und Schulanfänger aufnimmt und bis zur zehnten Klasse unterrichtet, und das Oberstufen-Kolleg, das die Jahrgänge der gymnasialen Oberstufe auf das Abitur vorbereitet. Die Schulen verstehen sich bis heute als Ideengeber für das Bildungssystem. In den ersten drei Jahren lernen die Fünf- bis Siebenjährigen in altersgemischten Kursen zusammen, bis zum achten Schuljahr verzichtet die Laborschule auf Fächer. Eigenständiges Arbeiten und Erfahrungslernen in Projekten prägen auch den Unterricht am Oberstufen-Kolleg. Klassenräume gibt es an beiden Schulen nicht: Die Lerngruppen teilen sich offene Räume mit
Senken und Erhöhungen, die so groß sind wie Turnhallen. Arbeitstische, Sitzgruppen oder Schrankwände geben den offenen
Lernlandschaften Struktur und bieten auch kleineren Gruppen Platz zum gemeinsamen Arbeiten.
Viele der in Bielefeld erprobten Innovationen wie offener Unterricht, die Arbeit in Projekten oder Englischunterricht im Grundschulalter zählen heute auch in
Regelschulen längst zum Standard. Über die Jahre exportierten Generationen von Lehramtsstudierenden, die ihre ersten schulischen Erfahrungen an einer der beiden Bielefelder Schulen machten, neue Ansätze in ihren Schulalltag. In Forschungs- und Entwicklungsprojekten begleiten Lehrende und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Arbeit an den Versuchsschulen und entwickeln neue Konzepte.
Die klassische Lehrerrolle hat ausgedient
So wird etwa die Arbeit in multiprofessionellen Teams, in denen Lehrkräfte und Psychologen mit Sonder- und Sozialpädagogen zusammenarbeiten, in Bielefeld seit vielen Jahren in der Praxis erprobt. „Noch ist das ein Entwurf“, stellt Bildungsforscher Peter Drewek klar. „Aber er wird auch an den Regelschulen zum Einsatz kommen, denn die klassische Lehrerrolle ändert sich.“ Klassen werden
heterogener, Schülerinnen und Schüler kommen mit unterschiedlichen persönlichen und biografischen Voraussetzungen in die Schule.
Selbstbestimmtes Lernen, demokratische Mitbestimmung und gegenseitiger Respekt zählen an den rund 100 Mitgliedsschulen im Bundesverband der Freien Alternativschulen (BFAS) zu den zentralen Grundsätzen. „Die Frage, wie viel die Schülerinnen und Schüler selbst entscheiden und wo sie feste Strukturen brauchen, wird an allen Schulen intensiv diskutiert“, beobachtet Geschäftsführer Tilmann Kern. „Manche lassen die Schülerinnen und Schüler über den ganzen Tag offen entscheiden, andere haben verpflichtende
Kernbereiche.“ Im BFAS sind sehr unterschiedliche Schulmodelle vertreten. Viele von ihnen, wie die Freie Schule Frankfurt oder die Glockseeschule in Hannover, sind Anfang der 1970er-Jahre aus
Elterninitiativen entstanden, bis heute kommen die Eltern vor allem aus einem
bildungsbürgerlichen, kreativen Milieu. Was sie alle eint, ist eine Pädagogik, die den
Gemeinsinn und die Eigenständigkeit der Kinder fördert. Allerdings komme nicht jede Schülerin und nicht jeder Schüler mit dem hohen Maß an Freiheit gleichermaßen gut zurecht, betont Tilmann Kern.
Jeder lernt von jedem
Seit dem
„Pisa-Schock“ erleben alternative Schulformen in Deutschland
eine Art Renaissance. Die bundesweite Bildungsstudie hatte deutschen Schulen überraschend schlechte Ergebnisse bescheinigt. Innovative pädagogische Konzepte wie die Bielefelder Laborschule schnitten dagegen überdurchschnittlich gut ab. Auch die Idee der Jenaplan-Schulen gewinnt in Deutschland weiter an Aktualität. In den 1920er-Jahren entwickelte der Erziehungswissenschaftler Peter Petersen seine Vorstellungen von einer „Schule der Selbstbestätigung“ und setzte sie in einer Versuchsschule in Jena um. In
Stammgruppen, die jeweils drei Jahrgänge umfassen, lernt jeder von jedem. Ziel ist es, allen Schülerinnen und Schülern Zeit zur Entwicklung ihrer Fähigkeiten zu geben.
Neben den Jenaplan-Schulen in Deutschland, den Niederlanden und Belgien gibt es weltweit Lehrkräfte, die nach der Pädagogik Peter Petersens arbeiten. Spannend: Vor dem Hintergrund der aktuellen bildungspolitischen Herausforderungen
birgt das
reformpädagogische Modell
Potenzial für den Unterricht für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund und für die Didaktik des Deutschen als Zweitsprache. Die Ergebnisse einer Studie an einer der wenigen Jenaplan-Schulen in Deutschland mit hohem Migrationsanteil in Berlin-Neukölln zeigen, dass für den Erfolg von Sprachförderung, interkulturellem Unterrichten und
Integrationsmaßnahmen für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund eines besonders wichtig ist: Kinder als ganze Menschen und eben nicht nur in ihrer Rolle als Schülerinnen und Schüler zu fördern.