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Stadt und Leben

Nutzen statt besitzen: Einblicke in die deutsche Sharing-Szene

Nikolai Wolfert und Stephan vom 'Leila'
| © Elisabeth Schwiontek

„Nutzen statt besitzen" lautet das Motto einer neuen Bewegung in Deutschland. Dem Trend des Teilens und Tauschens folgen dabei immer mehr Menschen.

Ein Laden in Berlin Prenzlauer-Berg, Fehrbelliner Straße. Der kleine Junge, der in der Kinderecke stöbert, findet ein Parkhaus für Spielzeugautos. Seine Mutter interessiert sich für eine Zuckerwattemaschine, ein älterer Herr für einen Rollkoffer. Neben Spielzeug, Küchengeräten und Geschirr gibt es in diesem Laden auch Werkzeuge, Gartengeräte, Bücher. Nur eines gibt es nicht: Preisschilder oder eine Kasse. Denn das Prinzip des Leihladens „Leila“ ist: teilen und tauschen statt kaufen. Der Berliner Laden ist damit Teil der Sharing Economy, einer Bewegung, die immer mehr Menschen fasziniert. Die Idee hinter dieser Wirtschaft des Teilens und Tauschens: Wichtiger als Dinge zu besitzen ist, sie nutzen zu können, wenn man sie braucht.

Nikolai Wolfert Nikolai Wolfert, der selbst „nur noch Lebensmittel“ kauft, hat den Leihladen 2010 gegründet und sagt: „Unser Grundgedanke ist, Dinge gemeinsam zu nutzen. Wer etwas Nützliches übrig hat, kann es bei uns vorbeibringen und dafür ausleihen, was er gerade gebrauchen kann.“ nachhaltiger Konsum ist eines der Schlagwörter der Sharing Economy. Wenn Menschen nicht ständig neue Dinge kaufen, sondern stattdessen teilen und leihen, muss weniger hergestellt werden. Das spart Rohstoffe und Energie, ohne dass die Lebensqualität sinkt. Das sei aber nicht der einzige Vorteil, erklärt Nikolai Wolfert. Die Teil- und Tauschwirtschaft ermögliche auch Menschen mit wenig Geld Zugang zu vielen Produkten, stärke die Gemeinschaft und die Kommunikation untereinander. „Dass sie Soziales und Ökonomisches verbindet, ist eine Super-Stärke der Sharing Economy.“



Der Leihladen bietet eine alternative Form des Konsums. Was ist die Idee dahinter?  


Warum passen das Internet und die Sharing Economy gut zusammen?

 


Stilvoll gegen Verschwendung

Die deutsche Sharing-Szene ist vielfältig. Menschen tauschen Kleidung auf kleiderkreisel.de und kämpfen so „ stilvoll gegen Verschwendung“. Sie bieten über 9flats.de ihre Wohnung zur Mitnutzung an oder finden über couchsurfing.org eine kostenlose Übernachtungsmöglichkeit überall auf der Welt. Mit Hilfe von Bikesharing oder Carsharing- Plattformen besorgen sie sich ein Fahrrad oder ein Auto auf Zeit, um Wege so bequem wie möglich zurückzulegen. Oder sie nutzen Plattformen wie netcycler.de und tauschen Dinge, die sie nicht mehr brauchen, gegen Gegenstände, die sie sich wünschen.

Gemeinschaftliche Konsumformen sind zwar nicht neu, Leihbibliotheken etwa gibt es schon seit mehreren hundert Jahren. Doch die Umständlichkeit des Leihens und Tauschens sorgte bisher dafür, dass alternative Formen des Konsums ein Nischendasein führten. Das hat sich durch das Internet geändert. Websites, Online-Portale und soziale Netzwerke sind das perfekte Instrument, denjenigen, der etwas verleihen oder tauschen möchte, mit dem zusammenzubringen, der genau diese Sache sucht. Nikolai Wolfert: „Das Internet ist ein Riesenhebel, ein Mega-Katalysator, der die Leih- und Tauschwirtschaft aus der Nische holt.“

Philipp Gloeckler sieht das ähnlich. Der Hamburger Startup-Unternehmer hat 2012 die Smartphone-App whyownit.com entwickelt, die Freunde und Nachbarn nach dem Facebook-Prinzip vernetzt und anzeigt, was jeder besitzt. Gloecklers Ziel: Mit Hilfe der Online-Welt das gegenseitige Ausleihen in Schwung bringen – und damit einen Anlass schaffen, Freunde und Nachbarn in der Offline-Welt zu treffen.

Besitz macht nicht glücklich

Nina Tannert „Ein Realgefühl, etwas Echtes, das einen erdet“, sucht auch die Berlinerin Nina Tannert. Früher gehörte Shoppen zu den Lieblingsbeschäftigungen der Designerin, auch wenn sie aus Versehen schon mal ein Kleidungsstück doppelt kaufte.

Besitztümer anzuhäufen macht nicht glücklich“, sagt sie heute. „Mir geht es um Reduktion, in der Wohnung, im Kleiderschrank, überall.“ Und sie weiß inzwischen, was glücklich macht: „In den Wald gehen und wandern.“

Es sind postmaterialistische Wertvorstellungen wie diese, die den Trend des Teilens und Tauschens befeuern. Dazu kommt: Für die Generation der ab 1980 Geborenen gehören Mobilität und Flexibilität zu den Grundpfeilern ihrer (Berufs-)Biografie – allzu viel Besitz belastet dabei nur. Die praktische Erfahrung, dass man kein exklusives Eigentum an Dingen haben muss, um ihre Vorteile nutzen zu können, gehört zum Alltag. Beispiel Carsharing: „Wenn ich ein Auto brauche, leihe ich mir eins“, sagt Nina Tannert. „Eines zu besitzen wäre mir viel zu aufwändig: Steuern, Versicherung, Reparaturen, nein danke!“

Hat sich dein Konsumverhalten verändert?

 


Ninas Meinung zum Thema Kleider kaufen

 


Wie hat sich dein Konsumverhalten verändert?


Jeder Zweite teilt

Doch wie viele Menschen sind es überhaupt, die teilen und tauschen? Harald Heinrichs, Professor für Nachhaltigkeit und Politik an der Leuphana Universität Lüneburg, hat eine (von dem Privatunterkunftvermittler Airbnb finanzierte) Studie über die Sharing Economy in Deutschland veröffentlicht. Das Ergebnis der Repräsentativbefragung: Jeder zweite Deutsche hat bereits Erfahrungen mit alternativen Besitz- und Konsumformen und ist damit Teil der Sharing Economy. „Die jüngere Generation hat die Vorteile einer Ökonomie des Teilens wiederentdeckt und belebt sie dank Internettechnologien neu“, so Harald Heinrichs. „Alternative Besitz- und Konsumformen erweitern die Eigentums-Ökonomie und bisherige Konsumgewohnheiten.“ In Deutschland fehle bisher aber ein strategischer Gesamtentwurf von Politik und Wirtschaft, der die Sharing Economy in ihren verschiedenen Facetten fördere. „Die Shareable-City-Initiativen in Seoul oder New York sind da viel weiter“, sagt der Professor. Allerdings ist bisher noch gar nicht erforscht, ob die Wirtschaft des Teilens und Tauschens in Deutschland tatsächlich zu einer besseren Nutzung von Ressourcen und damit zu mehr Nachhaltigkeit führt. Harald Heinrichs: „Da stehen wir noch ganz am Anfang. Als Faustregel gilt, dass ein Carsharing-Auto acht private PKW ersetzt. Ungeklärt ist aber unter anderem die Frage, ob der Carsharing-Wagen durch häufige Nutzung auch schneller kaputt geht und ersetzt werden muss.“

Kritik an der Sharing Economy

Diese Unklarheiten sind für Kritiker der Sharing Economy nicht das einzige Problem. Die digitalen Leih- und Tauschmodelle beruhen auf einer ganz besonderen Währung: Vertrauen. Was, wenn dieses Vertrauen missbraucht wird, wenn die Bewertungssysteme innerhalb der Communitys nicht ausreichen und das geliehene oder getauschte Produkt kaputt oder verschwunden ist? Die rechtliche Absicherung bleibt in diesem Fall in der Grauzone. „Falsch geteilt ist eben schnell ruiniert“, schreibt Marcus Rohwetter, Wirtschaftsredakteur der Wochenzeitung „Die Zeit“.

Konservative Ökonomen warnen vor der volkswirtschaftlichen Abwärtsspirale, die die Sharing Economy auslösen könne: Weniger Konsum führe zu sinkender Nachfrage, weniger Produkte würden hergestellt, die Arbeitslosigkeit steige, was eine Ausbreitung der Teil- und Tauschwirtschaft und weiter sinkenden Konsum zur Folge habe. Dort, wo die Sharing Economy besonders erfolgreich ist, zum Beispiel bei der Vermittlung von Privatunterkünften, wächst der Druck auf bestehende Geschäftsmodelle. Die Hotel-Lobby in den USA reagierte bereits mit Klagen gegen entsprechende Sharing-Modelle.

Kritik kommt auch aus der Alternativ- und Nachhaltigkeitsszene: kommerzielle Anbieter würden zivilgesellschaftlich organisierte Tauschbörsen verdrängen. Nikolai Wolfert vom „Leihladen“ sieht das gelassen. „Die Idee des Tauschens und Teilens hat einfach Potenzial. Das haben auch die Superreichen erkannt, die inzwischen Sharing-Modelle für Yachten und Jets nutzen.“

die Bewegung, die Bewegungen: hier: der Trend, die Strömung
der Laden, die Laden: das Geschäft
Sharing Economy (engl.): die Wirtschaft des Teilens; ein ökonomisches System, das nicht auf dem ständigen Kaufen von Produkten beruht, sondern darauf, Dinge zusammen zu nutzen oder zu tauschen
die Wirtschaft des Teilens und Tauschens: ein ökonomisches System, das nicht auf dem ständigen Kaufen von Produkten beruht, sondern darauf, Dinge zusammen zu nutzen oder zu tauschen
etwas übrig haben: etwas besitzen, aber es nicht brauchen
etwas übrig haben: etwas besitzen, aber es nicht brauchen
der nachhaltige Konsum: Produkte kaufen, die mit wenig Schaden für die Umwelt und die Arbeiterinnen und Arbeiter hergestellt wurden
die Teil- und Tauschwirtschaft: nicht jede Person kauft sich selbst das Produkt, sondern einer kauft es, verleiht es an andere oder tauscht es für etwas anderes
stilvoll: mit Stil, schön, gut aussehend
Bikesharing: ein Fahrrad nicht besitzen, sondern es – in der Regel gegen Gebühren – stunden- oder tageweise mieten. In größeren Städten gibt es Ausleihstationen, die über die ganze Stadt verteilt sind.
Carsharing: ein Auto nicht besitzen, sondern es – in der Regel gegen Gebühren – stunden- oder tageweise mieten; In der Regel bezahlt man einen Monatsbeitrag bei einem Carsharing-Anbieter und kann jederzeit und spontan für kurze Zeit ein Auto günstig mieten.
die Plattform, die Plattformen: hier: eine Webseite, über die man sich ein Fahrrad oder ein Auto ausleiht
auf Zeit: für einen bestimmten (meist kurzen) Zeitraum
die Umständlichkeit: hier: es ist nicht einfach, es macht viel Arbeit
ein Nischendasein führen: hier: nur wenige Menschen beteiligen sich
das soziale Netzwerk, die sozialen Netzwerke: Webseiten, über die viele Menschen miteinander Kontakt haben (zum Beispiel Facebook)
der Riesenhebel, die Riesenhebel: ein sehr großer Schalter; hier: eine große Hilfe
der Mega-Katalysator, die Mega-Katalysatoren: ein Stoff, der einen Vorgang beschleunigt, hier: Durch das Internet hat sich die Leih- und Tauschwirtschaft sehr schnell ausgebreitet.
der Startup-Unternehmer, die Startup-Unternehmer: eine Person, die vor kurzer Zeit ein Unternehmen gegründet hat
in Schwung bringen: hier: bekannter machen; mehr Menschen erreichen, die mitmachen
Besitztümer anhäufen: viele Dinge besitzen
die Reduktion: die Verminderung, der Rückgang; hier: weniger besitzen
die postmaterialistische Wertvorstellung, die postmaterialistischen Wertvorstellungen: die Einstellung, dass es nicht glücklich macht, viel zu kaufen und zu besitzen
befeuern: voran bringen, antreiben
der Grundpfeiler, die Grundpfeiler: die Basis
die Nachhaltigkeit: die Produktion von Gütern mit weniger Schäden für die Umwelt und die Arbeiterinnen und Arbeiter; die bessere Nutzung von Ressourcen
Airbnb: eine Internetplattform, über die Menschen Zimmer in ihren Wohnungen oder ihre ganze Wohnung für kurze Zeit vermieten, wenn sie zum Beispiel in den Urlaub fahren
die Ökonomie des Teilens: ein wirtschaftliches System, in dem nicht jede Person sich das Produkt selbst kauft und es besitzt, sondern in dem viele Personen es benutzen
die Shareable-City-Initiative, die Shareable-City-Initiativen: große Projekte in bestimmten Städten, in denen die Regierung die Ökonomie des Teilens unterstützt und Sharing-Angebote sowie Sharing-Startups fördert und für diese Ideen wirbt
die Faustregel: die Grundregel, das Grundprinzip
das Bewertungssystem, die Bewertungssysteme: die Nutzerinnen und Nutzer beschreiben auf der Webseite, welche Erfahrung sie mit anderen Nutzerinnen und Nutzern gemacht haben. So können wieder andere Nutzerinnen und Nutzer sehen, wem sie vertrauen können.
die rechtliche Absicherung: hier: sicher gehen, dass es ein Gesetz gibt, das bestimmt, wer einen möglichen Schaden bezahlen muss
die Grauzone, die Grauzonen: hier: Es gibt noch keine eindeutigen Gesetze dazu.
der konservative Ökonom, die konservativen Ökonomen: ein Experte in Sachen Wirtschaft, der Altbewährtes den Neuerungen vorzieht
die volkswirtschaftliche Abwärtsspirale: Der Wirtschaft im ganzen Land geht es schlechter.
die sinkende Nachfrage: hier: Die Menschen kaufen weniger.
die Hotel-Lobby: eine Gruppe von einflussreichen Vertreterinnen und Vertretern der Hotelwirtschaft
mit Klagen reagieren: hier: Hotelbesitzer zeigen die Betreiber der Sharing-Portale an
mit Klagen reagieren: hier: Hotelbesitzer zeigen die Betreiber der Sharing-Portale an
der kommerzielle Anbieter, die kommerziellen Anbieter: hier: Betreiber von Sharing-Portalen, denen es darum geht, Geld zu verdienen
zivilgesellschaftlich organisierte Tauschbörsen: Sharing-Initiativen, die einfache Bürgerinnen und Bürger betreiben, weil sie es sinnvoll finden und nicht, weil sie Geld verdienen wollen