Liebe(r) Fremde(r),
ich kenne dich nicht. Vielleicht sind wir kilometerweit voneinander entfernt oder vielleicht bin ich nur einen Moment von dir entfernt. Aber ich weiß, dass wir den gleichen Planeten und das gleiche Leben teilen. Ich bin vielleicht nicht bei dir, aber ich fühle auch, was du fühlst. Ich sehe, dass du deine Welt vor der Außenwelt versteckst. Je mehr du versuchst, Dinge herauszubekommen, desto mehr verlierst du dich. Deshalb ist es mir wichtig, dass du diese Worte verstehst. Auch wenn wir weit weg sind, bist du nicht allein.
Unser Leben wurde durch ein Virus zerstört, das plötzlich aufgetaucht ist. Wir waren in unseren Häusern eingeschlossen und haben uns eine Weile nicht gesehen. Zusätzlich zu den kranken Menschen konnten viele Kinder wie ich nicht zur Schule gehen und viele Menschen haben ihre Arbeit verloren. Ebenso musste ich etwa ein Jahr lang online lernen. Alles war schwieriger als vorher. Ich habe gemerkt, dass das Internet wertvoller als zuvor war. Ich konnte meine Freunde nicht treffen, ich konnte nicht einmal das Haus verlassen. Ich vermisse es einzukaufen, ins Kino zu gehen, spazieren zu gehen und Zeit mit meinen Freunden zu verbringen. Ich konnte die Menschen, die ich liebe, nicht sehen. Im Grunde hatte ich das Gefühl, dass meine Welt ein Albtraum geworden ist, und ich weiß, dass du genauso empfunden hast.
Aber weißt du was? Mein Leben dreht sich nicht um das Virus und die Abriegelung. Als ich gemerkt habe, dass ich die Ereignisse nicht ändern konnte, habe ich begonnen, mich selbst zu verändern. Ich habe noch mehr gelernt, weil ich wusste, dass ich meine Ziele noch erreichen könnte. Ich habe viel mehr Aktivitäten gemacht, um mich glücklich zu fühlen. Ich habe zum Beispiel viele Lieder komponiert und noch mehr davon gehört.
Ich habe angefangen, eine neue Sprache zu lernen. Meine Mutter hat immer gesagt: „Eine Sprache bindet zwei Menschen aneinander." Wer weiß, vielleicht war es diese Sprache, die mich mit dir verbunden hat. Jetzt lese ich mehr Bücher als je zuvor. Jedes Buch, das ich lese, bringt mich in andere verzauberte Welten, in denen ich Menschen mit unterschiedlichen Leben begegne. Ich sehe Filme, wenn ich lachen will. Ich sehe auch Filme, wenn ich weinen will. Ich kann sagen, dass ich versuche, jedes einzelne Gefühl in vollem Umfang zu erleben. Außerdem bin ich den Menschen, die ich liebe, ganz nah, auch wenn ich allein in meinem Zimmer bin. Wir haben die besten Momente zusammen und teilen die schönsten Erinnerungen. Du fragst dich vielleicht nach dem Grund. Warum? Weil wir verstanden haben, dass wir füreinander viel wertvoller sind. Als wir gemerkt haben, wie wenig Zeit wir zusammen hatten, haben wir gelernt, im Moment zu leben.
Ich weiß, wie schlimm diese Epidemie erscheint. Ich kann jedoch sagen: Auch wenn unsere Verhältnisse schlecht sind, muss unser Leben nicht schlecht sein. Wenn mir jemand diese Situation vorher erzählt hätte, wären meine Gedanken wahrscheinlich nicht so klar gewesen. Ich war nicht so mutig, aber jetzt weiß ich, dass es nicht so sein muss. Ich beginne zu glauben, dass jede Handlung einen Sinn hat. Vielleicht ist diese beunruhigende Situation dazu da, uns voranzubringen. Mutig zu sein bedeutet, von der guten Seite zu schauen. Mutig zu sein bedeutet, trotz allem seine Ziele zu verfolgen. „Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen“, sagte Goethe. Dann habe ich keinen Grund, nicht auch schöne Dinge zu bauen. Ich weiß jetzt, wenn ich mich von den unveränderlichen Dingen verändern lasse, gehe ich verloren. Wenn ich mich aber verändere, dann finde ich, wonach ich suche.
Sobald ich die Schönheit meines Lebens erkannt habe, habe ich mich selbst verändert, und ich habe auch den Menschen um mich herum geholfen, sich zu ändern. Eines der Dinge, die ich aus der Epidemie gelernt habe, ist, dass Hilfe auf verschiedenen Wegen kommen kann. Die wichtigste Hilfe war, vorsichtig zu sein. Ich habe Menschen angelächelt, ich war an ihrer Seite, wenn sie mich am meisten gebraucht haben, ich habe an ihren glücklichsten Momenten teilgenommen. Ich will dir auch helfen, du Fremder. Oder bist du mir nicht fremd? Habe ich dich schon mal gesehen? Nein, ich denke nicht. Aber ich kenne dich. Ich glaube, ich habe vergessen, dir das Wichtigste zu sagen, was ich in dieser Zeit gewonnen habe: Ich habe die Tatsache verstanden, dass wir alle Menschen sind. Denke nach! Wir sind die Probleme gemeinsam angegangen, ohne Diskriminierung und Vorurteile, auch nur für einen Moment. Wir haben Dinge gemeinsam geteilt. Wir haben uns erinnert, dass wir alle Weltbürger sind. Jetzt frage ich dich: Warum muss es auf einen Moment begrenzt werden? Liegt es nicht in unserer Hand, ein paar Dinge zu ändern? Ich hoffe, dass das, was ich schreibe, dich mit deinen Hoffnungen verbindet, so wie es mich mit dir verbindet. Wer weiß, vielleicht werden diese Hoffnungen eines Tages unsere Hoffnungen.
Bleib hoffnungsvoll!